Ein Partner für die Lady?

San Francisco wird die Partnerstadt von Zürich. Muss man ihr das zumuten?

Schweizer zieht es nach San Francisco, weil die Stadt alles bietet, was Zürich zu bieten hat, aber nicht Zürich ist. Selbst Bündner fühlen sich in "The City" wohl, wie die Einwohner sie nennen, lindern doch die mehr als vierzig Hügel, auf denen sie gebaut ist, das Heimweh nach der Bergwelt. San Francisco ist eine weltoffene Stadt, die einem fast alles verzeiht, solange man sie nicht "Frisco" nennt - was noch schlimmer ist als das Bekenntnis, weder homosexuell noch Künstler zu sein.

Zürichs Städtepartnerschaft mit San Francisco beruht auf dem Irrtum, die beiden Metropolen hätten viel gemeinsam. Gewiss - beide sind sie, was die Städteplaner neuerdings "Boutiquenstädte" nennen. Modische Geschäfte, elegante Restaurants und attraktive Bars säumen Strassen, die zum Flanieren einladen. Fussgängerfreundlichkeit und ein dichtes öffentliches Verkehrsnetz, für Zürcher eine Selbstverständlichkeit, machen San Francisco zu "Americas Favorite City": Mit Metro, S-Bahn, Tram, Bussen und Cable Car ist die Stadt ein Exotikum in einem Land, in dem die Kinder mit Rädern statt Füssen zur Welt kommen. Gut betuchte, überdurchschnittliche gebildete und konsumfreudige Einwohner kennzeichnen Zürich wie San Francisco, und seit die Limmatmetropole multikulturell geworden ist, findet man in ihr auch, was man zuvor nur in von der Immigration geprägten Städten wie eben San Francisco gefunden hat - die Krimskramsläden, Imbissbuden und Dienstleistungsangebote, die die Extravaganzen einer Weltstadt um die Annehmlichkeiten eines globalen Dorfes ergänzen.

Golden Gate Bridge im Nebel
Die Golden Gate Bridge im Nebel.

Exhibitionismus des Hässlichen

Also doch lauter Gemeinsamkeiten? Selbst in der Zurschaustellung des Hässlichen gleichen sich die beiden Städte. Der merkwürdige Exhibitionismus, den die Bankenstadt Zürich in den Achtzigerjahren mit ihren Fixern an den Tag legte, hat seine Entsprechung in der Präsenz der Obdachlosen, die San Franciscos Stadtzentrum bevölkern. Zerlumpt, vor Schmutz starrend und mit Kartonbechern um Münz bettelnd, machen sie das Einkaufserlebnis in der Market Street und rund um den Union Square zu einem Spiessrutenlauf. Die Versuche der Behörden, sie von da wegzulocken, sind ebenso zahlreich wie hilflos. Der Tierschutzverein rühmt sich mittlerweile, dass es weniger herrenlose Viecher gibt als obdachlose Menschen.

Was dem Schweizer Touristen ob all dieser offensichtlichen Ähnlichkeiten entgeht, sind die fundamentalen Unterschiede. Die beiden Städte liegen Welten auseinander und sei es nur, weil sie auf ganz anderem Grund gebaut sind. Entlang der Küstenlinie San Franciscos, wo die Pazifische Platte auf die Nordamerikanische Platte stösst, verläuft die San Andreas - Störung, und mehr als einmal in ihrer Geschichte sind die Stadtbürger in schmucken Häusern zu Bett gegangen und in Ruinen aufgewacht. Hiesige Zeitungen verzeichnen auf ihrer Wetterkarte seismische Aktivitäten mit derselbern Selbstverständlichkeit wie die Temperaturen und Luftfeuchtigkeit. Das letzte grosse Erdbeben von 1989 rief das grösste in Erinnerung, das von 1906, bei dem das Stadtzentrum völlig zerstört wurde und mahnte schon an das nächste. Niemand weiss, wann es kommen wird. Mit ihrem Satz "Die Stadt ist gebaut" hatte eine bekannte Zürcher Politikerin einst das Selbstverständnis der Zwingli - Metropole psychologisch auf den Begriff gebracht. In San Francisco wäre so etwas im Wortsinne deplaziert.

Noch mehr aber im übertragenen Sinne. Als seien Katastrophen wie Erdbeben und Feuersbrünste nicht genug, haben die Einwohner von San Francisco aus freien Stücken immer wieder ihre Stadt neu erfunden. Über Nacht war die verschlafene Hafenstadt im Goldrausch von 1848 zum Eldorado der Abenteurer aus aller Welt geworden; oft totgesagt, ist sie ebenso oft wieder neu erstanden - Trendsetter nicht nur der USA, sondern der westlichen Welt schlechthin. Von den Beatniks der Fünfzigerjahre über den "Summer of Love" von 1967 bis zum Wirtschaftsboom des Silicon Valley, den Baby Boomern, der Generation X und den Yuppies hat San Francisco Signale gesetzt. Hier liebt man das Risiko und honoriert Ideen umso bereitwilliger, je verrückter sie sind. Wenn Kalifornien die Innovationsmaschine Amerikas ist, so ist San Francisco die Schaltzentrale: die Stadt, die schon deshalb nicht zu orten ist, weil ihre Bewohner aus allen Himmelsrichtungen herbeigeströmt sind. Für die Ureinwohner das von Wassern umgebene Zentrum der Welt, war sie für die eroberungsfreudigen mexikanischen Rancher der freie Norden, für die russischen Pelzjäger der verlockende Süden, für die asiatischen Emigranten der Hort der Sehnsucht im Fernen Osten, und für die amerikanischen Pioniere der Wilde Westen - "the new frontier". Was heisst: Mit Ausnahme der indianischen Ureinwohner bedeutete sie für alle der Traum vom neuen Glück - ganz nach der Devise: lieber die Taube in der Hand als den Satz auf dem Dach.

Soll man es der Risikofreudigkeit von Zürichs Stadtbehörden zuschreiben, dass sie sich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt San Francisco zuwenden, in dem die Stadt darniederliegt? Wenn Kaliforniens heimliche Hauptstadt derzeit einen Trend setzt, dann einen negativen. Das grosse Business, Banken, Warenhäuser, Telekommunikation, Radio und Fernsehen, ja selbst die Zeutung, "The San Francisco Chronicle", sind in fremde Hände übergegangen. Die New Economy ist geplatzt, eine neue Goldmine nicht in Sicht. Man begegnet schon Bettlern, die anständig gekleidet und vor kurzem noch in einem jener vielen Büros gesessen sind, die nun leer stehen. Noch sind die Restaurants gut besucht, doch die Galerien bleiben auf ihren Kunstwerken sitzen. Wer Kinder hat, zieht aus, es sei denn, er sei sehr reich; die Mietpreise betragen, der Rezession zum Trotz, mindestens das Doppelte von Zürich. Chronisten, die ungerührt die Vorzüge ihrer Heimatstadt preisen, greifen immer tiefer in die Geschichtskiste, um zu beweisen, dass es Zeiten gab, die noch schlimmer waren. Spötter verweisen auf die kälteren Sommer und klagen, dass selbst die globale Erwärmung San Francisco links liegen gelassen hat.

Keine Seelenverwandtschaft

Aber niemand ist hier so pessimistisch, dass er nach Zürich auswandern möchte, wo man immer schon eher hoffte, als fürchtete, die Zukunft sei die Fortsetzung des heutigen Tages. San Francisco, auf bewegtem Grund gebaut, bewegt sich nicht zum ersten Mal talwärts. Dass es nicht so bleibt, gehört mit zu den Erfahrungen seiner Bürger, die im musilschen Sinne den Möglichkeits- dem Wirklichkeitssinn vorziehen. Nein, es gibt keine Seelenverwandtschaft zwischen den beiden Städten.

Es fällt auch dem verbohrtesten Realisten schwer, sich von San Franciscos Leichtigkeit nicht anstecken zu lassen, wenn an einem Herbsttag die Golden Gate Bridge rostrot in einem lichtblauen Himmel leuchtet und sich in den Wassern spiegelt, deren Weiten endlos scheinen. Man weiss dann, dass der Winter kommt, und freut sich auf den Duft der frischen Blüten, der die milde Dezemberluft schwängert - guter Hoffnung selbst in Zeiten, da Zürich in der Winterdepression verdämmert.

San Francisco", schreib Norman Mailer, "ist eine Lady."
Und eine solche hat einen Gatten verdient, keinen Partner.

Quelle: Das Magazin Nr.44 (01. November 2003 bis 07. November 2003)